Tabuthema Depression: „Es ist eine Volkskrankheit, keine Charakterschwäche“

Gruppenbild mit Thomas Reinbacher

26. September 2023

Beim Alumni Talk sprach Thomas Reinbacher offen über seinen Weg von der Traumkarriere in die Psychiatrie und zurück ins Leben.

Hochschulen beschäftigen sich gern mit den Erfolgsgeschichten ihrer Absolvent*innen. Mit Thomas Reinbacher war für den Alumni Talk am 25. September an der FH Technikum Wien jemand geladen, der viel von Erfolgen hätte erzählen können: Bachelor und Master am Technikum, Doktorat an der TU Wien, Forschung bei der NASA, bei Amazon in München Leiter des Produktteams für Alexa. „Das ist die Linkedin-Sicht auf mein Leben“, sagte Reinbacher. An diesem Abend war er hier, um über einen anderen Teil seines Lebens zu sprechen, den er im Buch „Nach Grau kommt Himmelblau“ verarbeitet hat.

Es begann vor zwei Jahren. Reinbacher leitete von München aus bei Google ein Team aus 50 Personen im Bereich der Künstlichen Intelligenz und meisterte daneben mit seiner Frau und dem gemeinsamen Sohn die Herausforderungen eines Familienlebens. Irgendwann stellten sich Schlafprobleme ein und er schaffte es auch an Wochenenden und im Urlaub nicht mehr, sich zu erholen. Im Nachhinein berichtet er von dem Gefühl, ständig mit leerem Akku unterwegs zu sein.

Du brauchst Hilfe.

Reinbacher ignorierte diese Warnzeichen. Zwei Monate später erreichte sein Zustand eine neue Stufe. „Meine Konzentrationsfähigkeit war plötzlich vom Erdboden verschluckt“, sagte er. „Bis dahin war mein Kopf mein wertvollstes Kapital.“ Und jetzt? Konnte er nicht einmal eine einfache E-Mail sinnerfassend lesen. Es war seine Frau, der zuerst klar wurde: „Du brauchst Hilfe.“

Die Nachricht für den Patienten in der Aufnahme der Psychiatrie, der nicht mehr in der Lage war, den Anmeldeschein selbstständig auszufüllen: am besten hierbleiben. Drei Monate verbrachte er in stationärer Behandlung, darauf folgten Monate einer intensiven Therapie. Dann sollte es endlich zurück in den Job gehen – zu früh, wie sich herausstellte.

Acht Wochen nach Wiedereinstieg bei Google verdüsterte sich sein Zustand bis an einen Punkt, an dem er und seine Partnerin um sein Leben fürchten mussten. Suizidgedanken stellten sich ein.

Das ist meine Story, die ich erzählen muss.

Zurück im Krankenhaus war es wieder seine Frau, die die wichtigste Entscheidung traf. Sie sprach die Suizidgedanken an, die ihr Mann bestritt. Das bedeutete die Einweisung in den geschlossenen Bereich der Psychiatrie. Dort kämpfte Reinbacher in den folgenden Monaten mit seiner Depression sowie akuten Nebenwirkungen der Psychopharmaka.

„An diesem Punkt half nur mehr die Akzeptanz der Situation. Ich habe mir gesagt: Wenn du da rauskommst und zweite Chance bekommst, dann sprich ich offen und ehrlich drüber. Das ist meine Story, die ich erzählen muss.“

Es sollte noch einmal ein Jahr dauern, bis Reinbacher heute sagen kann: „Der Himmel ist wieder Blau.“ Und: „Künstliche Intelligenz, Promotion, Großprojekte: alles Kindergeburtstag. Da raus zu kommen, das war der echte Kraftakt in meinem Leben.“

Der Großteil der Menschen versucht lange, selber damit fertig zu werden, und holt erst Hilfe, wenn es richtig eskaliert ist.

Das Buch und eine neue Arbeit als Vortragender, die mit dem Talk am Technikum begann, soll anderen Menschen zeigen, dass Depression etwas ist, über das man sprechen kann und soll. Laut Weltgesundheitsorganisation erlebt jede dritte Person im Laufe ihres Lebens eine psychische Erkrankung. Viel zu Wenige gelangen zu dem Bewusstsein, sich helfen zu lassen. „Viele psychische Erkrankungen sind gut behandelbar. Ich glaube, ich bin das Beispiel, dass es möglich ist.“

Reinbacher riet den Anwesenden von diversen Achtsamkeits-Tools und -Apps ab. „Alles Quick Fixes“, so der ehemalige Software Engineer. Seine persönliche Strategie ist umfassender: Er schilderte, wie er lernte, Schwächen zu akzeptieren und in neuem Licht zu sehen. Wie er sich in Behandlung auf die Suche nach seinen eigentlichen Werten machte. Und wie er seit seiner Rückkehr ins Leben versucht, sich in Stresssituationen weniger Sorgen zu machen. Zudem hilft ihm, sich nicht mehr nur in Erwerbsjobs zu engagieren, sondern auch im sozialen Bereich etwas zurückzugeben.

„Der Großteil der Menschen versucht lange, selber damit fertig zu werden, und holt erst Hilfe, wenn es richtig eskaliert ist.“ Andere Wege aufzuzeigen, soll die nächste Erfolgsgeschichte dieses Absolventen werden.

Alles zu Thomas Reinbachers autobiographischem Buch sowie u.a. der Möglichkeit, ihn für Vorträge zu buchen: himmelblau.jetzt

im Bild v.l.n.r.: Rafael Rasinger (Innovation, Scale up and Networks) und Mariella Müller (Leitung Equality Management) mit Thomas Reinbacher

Hilfe in der Krise

Österreichweit:

Telefonseelsorge: 142 (Notruf), täglich 0–24 Uhr
Telefon-, E-Mail- und Chat-Beratung für Menschen in schwierigen Lebenssituationen oder Krisenzeiten. Online unter www.telefonseelsorge.at.

Wien:

Sozialpsychiatrischer Notdienst/PSD: Tel.: 01 31330, täglich 0–24 Uhr
Psychiatrische Soforthilfe im Krisenfall: Unter dieser Nummer erhalten Sie qualifizierte und rasche Hilfestellung rund um die Uhr. Online unter www.psd-wien.at.

Kriseninterventionszentrum: Tel.: 01 4069595, Montag bis Freitag 8–17 Uhr

Ambulanz zur Bewältigung von akuten psychosozialen Krisen. Telefonische, persönliche oder E-Mail-Beratung. Erstgespräche können von Montag bis Freitag 10 bis 16 Uhr nach telefonischer Terminvereinbarung geführt werden. Erstgesprächstermine können noch für denselben Tag oder für die folgenden zwei Werktage vergeben werden. Online unter www.kriseninterventionszentrum.at.