Virtuelle Inbetriebnahme bietet viele Vorteile
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16. Januar 2024
Händisch erstellte Simulationsmodelle bergen hingegen Fehlerquellen, erklärt Experte Robert Fellner im Vorfeld des nächsten Start me up Monday.
Beim nächsten Start me up Monday am 22. Jänner 2024 dreht sich alles um „virtuelle Inbetriebnahme“. Wir haben im Vorfeld mit Robert Fellner gesprochen. Er ist Lektor und Forscher an der FH Technikum Wien (Kompetenzfeld Industrial Product Life Cycle Technologies) und wird den einführenden Vortrag zum Thema halten.
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Lecturer/Researcher
Was versteht man unter einer virtuellen Inbetriebnahme?
Robert Fellner: Wir verstehen die virtuelle Inbetriebnahme als eine Sammlung verschiedener Vorabsimulationen im Zuge der (Weiter-)Entwicklung mechatronischer Systeme. Vor allem die Simulation produzierender Industrieanlagen und Anlagensysteme steht im Vordergrund, um Aspekte der realen Inbetriebnahme parallel zum Entwicklungsprozess umzusetzen und damit Fehler verringern (im besten Fall vermeiden) zu können. Hier wird, wie oft missverstanden, nicht die Berechnung und Simulation von Finite Elemente behandelt: die Simulationen zielen viel mehr auf die Prüfung von Abläufen und Programmierung und Prüfung von Schaltungen in der Interaktion verschiedener mechatronischer Anlagen ab. In den letzten Jahren sind aus diesen Simulationsumgebungen der virtuellen Inbetriebnahme andere Teilgebiete hinzugekommen: So werden die (Vorab-)Visualisierung von Anlagen/Anlagensystemen und weitere Nutzungen der erstellten Simulationsumgebungen, etwa zur virtuellen Schulung von Anlagen, Smart Maintenance, und vieles mehr immer aktueller.
Welche Vorteile bietet eine virtuelle Inbetriebnahme?
Robert Fellner: Im Zuge der Entwicklung einer produzierenden Anlage ist es kaum zu vermeiden, dass Fehler passieren. Eine Vorabsimulation einer entstehenden Anlage reduziert vorrangig Fehler, die sonst erst bei der realen Inbetriebnahme erkannt werden. Die virtuelle Inbetriebnahme hat demnach das Ziel, entstehende Fehler zu einem möglichst frühen Zeitpunkt erkennen und beheben zu können – das spart Geld und reduziert die reale Inbetriebnahme-Zeit.
Wie aufwendig ist es, das Verhalten unterschiedlicher und komplexer Maschinen mit einer Simulation für eine virtuelle Inbetriebnahme nachzubilden?
Robert Fellner: Genauso schwierig, wie diese Frage zu beantworten. Die Frage beinhaltet bereits, dass die Komplexität mit dem Grad der Nutzung Heterogener Systeme und der Komplexität der Anlage/Maschine selbst einhergeht, also anders gesagt: umso weniger verschiedene Elemente miteinander interagieren, umso einfach ist eine Nachbildung. Im Besten Fall bestehen bereits Verhaltensmodelle von Produzent*innen: Dann ist es „nur“ mehr eine Frage der Integration der Modelle: Gibt es keine Verhaltensmodelle und die Anlage ist sehr komplex (bzw. das Erstellen des Verhaltensmodells ist sehr komplex), dann kann es vorkommen, das man Abstriche machen und ein höheres Abstraktionslevel wählen muss.
Welche Schritte / Ebenen sind für eine virtuelle Inbetriebnahme notwendig?
Robert Fellner: Es beginnt beim Lastenheft, das entsprechende Aufgabenstellungen vorwegnimmt. Von den Aufgaben müssen möglichst konkrete Fragen abgeleitet werden. Stehen diese, setzt man den Zeitpunkt, wann eine Simulation umgesetzt wird, und welche Simulationstiefe (oder wie vorhin: Abstraktionslevel) gewählt werden kann – diese Antworten setzt dann das richtige Tool fest. Je nach vorhandener Datenlage müssen im nächsten Schritt die vorhandenen Daten zur Simulation aufbereitet und in eine entsprechende Simulation eingebunden werden. Durchführung und potentielle Adaption der virtualisierten Anlage sind dann meist ein zyklischer, hier kann man sich für die Teilschritte ganz gut am V-Modell orientieren.
Welches Potential für Startups liegt in diesem Bereich einer aufstrebenden Technologie?
Robert Fellner: Startups haben per se den Vorteil flexibler agieren zu können, als man es von größeren Konzernen gewohnt ist. Das scheint in der (noch?) Nische der virtuellen Inbetriebnahme sehr günstig, da die Prozessdetails der Anlagen sehr unterschiedlich sein können. Auch juristische Themen, wie die Weitergabe von Simulationsmodellen scheint bei etablierten Unternehmen nach wie vor eine große Schwierigkeit darzustellen. Hier können Startups mit Tempo, innovativen Lösungen und Mut, viele Vorteile für sich beanspruchen.
In welchen Bereichen können virtuelle Inbetriebnahmen in Zukunft noch verbessert werden?
Robert Fellner: Ich sehe gerade bei der Erstellung der Simulationsmodelle den größten Entwicklungsschritt noch vor uns: Simulationsmodelle von CAD Modellen „händisch“ zu erstellen ist zeitraubend und birgt wiederum neue Fehlerquellen. Einzelne Unternehmen haben das bereits erkannt und gehen in diese Richtung. Es muss eine Weitergabe der Modelle zwischen Produzenten und Kunden der Anlagen geben, damit Teilmodelle effizienter weiter verwendet werden können. Ein weiterer Ansatz ist hier die generische Erstellung solcher Simulationsmodelle, in der Forschung passiert hier gerade einiges, auch hier an der FHTW.
Wo werden virtuelle Inbetriebnahmen aktuell angewandt? Und in welchen Bereichen könnten sie in der Zukunft, in 10 bis 20 Jahren, angewandt werden?
Robert Fellner: Bei verfahrenstechnischen Anlagen kennen wir die Vorabsimulation schon seit Jahrzehnten. Durch die Dissertation von Herrn Wünsch 2007, „Methoden für die virtuelle Inbetriebnahme automatisierter Produktionssysteme“, ist die virtuelle Inbetriebnahme auch bei mechatronischen Anlagen im deutschsprachigen Raum bekannt. Aufgrund des zusätzlichen Aufwandes Simulationsmodelle zu erstellen und der mangelnden Tools diese Umzusetzen, war es aber bis vor ein paar Jahren nur in Nischen (vorrangig im Sondermaschinenbau) wirtschaftlich, diese umzusetzen – das hat sich nun weitestgehend geändert. Die effizienten Tools sind nun aber vorhanden, das Knowhow auch. Der Aufwand, Modelle zu erstellen ist daher deutlich geringer geworden. Ich sehe eher kritisch, dass virtuelle Inbetriebnahme in 20 Jahren noch so bezeichnet/verwendet wird, die Methodiken aus der virtuellen Inbetriebnahme werden in den nächsten Jahrzehnten aber bei Nutzung dieser Simulationen in anderen Bereichen bestimmt noch Gültigkeit haben. Neuere Begriffe wie das „Model-based Systems Engineering“ oder „virtueller Produktlebenszyklus“ nutzen Methodiken der virtuellen Inbetriebnahme. Diese sind aus meiner Sicht daher natürliche Erweiterungen, die ebenfalls noch im Entstehen sind. Um diese Themen umsetzen zu können, macht es daher Sinn, die Methodiken der virtuellen Inbetriebnahme zu beherrschen.
Wie erfolgt der Einsatz von virtuellen Systemen in der Lehre?
Robert Fellner: Wir haben festgestellt, dass Teilaufgaben der virtuellen Inbetriebnahme in der Lehre zu verschiedenen Themen genutzt werden können. So können z.B. Studierende ohne Programmiererfahrung „echte“ virtuelle Roboterabläufe gefahrenfrei und intrinsisch im eigenen Tempo umsetzen.
Info zum Projekt “INVIS”:
Seit 2021 wird Robert Fellners Arbeit im Forschungsprojekt INVIS – „Integration virtueller Systeme in die Lehre und Laborübung“ (MA23 Projekt 29-11) durch die Stadt Wien unterstützt.
Hier geht’s per Link zum Projekt.
Mehr dazu beim Event, wo neben Robert Fellner unter anderem weitere Expert*innen wie Johannes Rauer-Zechmeister (Portfolio Expert bei Siemens, Business Development) und Marcus Schneider (Territory Sales Manager bei Visual Components) vertreten sein werden.
Nähere Details zum Event: