VR und AR: Vom Montage-Assistenzsystem bis zum Lernen im virtuellen „Metaversum“
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10. Mai 2021
Die FHTW-Experten Horst Orsolits und Maximilian Lackner haben ein Buch herausgegeben, das sich mit dem Einsatz von Virtual- und Augmented Reality-Systemen in der digitalen Produktion befasst. Im Interview erläutern die beiden Fachleute, wie die Technologien heute in der Industrie Anwendung finden – und wie sie künftig unseren Alltag verändern werden.
Virtual und Augmented Reality werden häufig mit Computer- und Videospielen in Zusammenhang gebracht, die Technologien gewinnen aber auch in vielen Bereichen der Industrie immer stärker an Bedeutung. Das Buch Virtual Reality und Augmented Reality in der Digitalen Produktion widmet diesem Segment besondere Aufmerksamkeit. Namhafte Experten von Hochschulen und Unternehmen aus dem deutschsprachigen Raum zeigen darin mit ihren Beiträgen die große Bandbreite an Anwendungsmöglichkeiten von VR und AR auf – von der Maschinensimulation bis zur Schulung von Mitarbeitern. Herausgegeben wurde das im Vorjahr im Verlag Springer Gabler erschienene Buch von Horst Orsolits und Maximilian Lackner von der Fakultät für Industrial Engineering der FH Technikum Wien. „Wir haben den Autoren bewusst wenig Vorgaben gemacht, was die Auswahl der Themen und der Tiefe angeht und wollten hier wirklich einen möglichst breiten Überblick über die beiden Themen schaffen“, sagt Orsolits, der das Kompetenzfeld Virtual Technologies & Sesor Systems leitet. Sein Kollege Lackner ist an der FHTW Leiter der Master-Studiengänge Innovations- und Technologiemanagement sowie Internationales Wirtschaftsingenieurwesen. Im Interview erklären die beiden Experten, warum VR und AR in der Produktion immer wichtiger werden – und wie die Technologien schon in naher Zukunft unseren Alltag mitbestimmen werden.
Virtual und Augmented Reality sind keine neuen Themen. Das von Ihnen herausgegebene Buch zeigt: Beides gewinnt aktuell in vielfältigen Bereichen der Industrie an Bedeutung. Warum „zieht“ das Thema gerade jetzt?
Maximilian Lackner: Es braucht immer eine gewisse Zeit, bis sich eine Technologie durchsetzen kann. Das war etwa auch beim 3D-Druck so. Vor fünf Jahren gab es einen Riesenhype, aber eigentlich gibt es 3D-Druck schon seit 30 Jahren. Es gibt eine klassische Theorie, wie das mit Innovationen abläuft: Es gibt die „Early Innovators“, die immer gleich bei jedem neuen Gimmick mit dabei sind. Und es gibt jene, die ein bisschen länger brauchen, bis sie aufspringen. Ähnlich ist es mit AR und VR: Das Thema musste sich etwas setzen, bis man gemerkt hat, welche Vorteile die Technologien bieten. Die Entwicklung hängt auch stark mit dem Thema Digitalisierung zusammen – die Firmen haben erkannt, dass sie in dem Bereich etwas machen müssen.
Horst Orsolits: Ich möchte noch eine technische Innovation als „Brandbeschleuniger“ für Augmented Reality herausstreichen: Das ist die Entwicklung des Mobiltelefons. Die Prozessortechnologie sowie die Linsen- bzw. Kameratechnologie – beide sind essenziell für VR und AR – sind derart rasant vorangeschritten, dass damit auch das Preis-Leistungsverhältnis der Technik interessant wurde. Eine VR-Brille bekomme ich heute um 200 bis 300 Euro. Augmented Reality kann ich bequem am Handy verwenden. Und mit der Technologie war dann auch die Plattform für die Softwareanbieter da, um hier groß einzusteigen und den Markt neu zu eröffnen. Die Applikation auch in den industriellen Kontext zu bringen, war dann nur eine Frage der Zeit.
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Dank moderner Prozessoren und Linsen lässt sich AR bequem am Smartphone nutzen.
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Virtuelle Interaktion mit einem Roboterarm
Das Buch hat die Einsatzmöglichkeiten in der Digitalen Produktion als Thema. Wo sind hier die wichtigsten Anwendungsbereiche?
Lackner: Ich sehe das stark im Bereich Schulung. Hier kann man etwa das Onboarding von neuen MitarbeiterInnen beschleunigen oder komplexe Sachverhalte vermitteln.
Orsolits: Training für neue oder zu schulende Mitarbeiter oder Wartung und Instandhaltung sind derzeit in der Industrie die häufigsten Anwendungsbereiche. Was Reparatur- oder Montageanleitungen angeht, kann man hier viele Abläufe digital unterstützen. Es gibt Studien, die besagen, dass man in dem Bereich die Prozesse um bis zu 40 Prozent beschleunigen kann – wenn man eben nicht mehr jedes Mal mühsam im Manual nachschauen muss, wohin welche Schraube als nächstes kommt. In der Industrie ist das schon relativ gut angekommen.
Wie steht es um die direkte Einbindung von VR/AR-Technologien in Produktionsprozesse?
Orsolits: Die Industrie ist da noch sehr abwartend. Serienfertigung funktioniert eben in der Serie und wird durch Automatisierung optimiert. Assistenzsysteme rücken aber immer stärker dort in den Fokus, wo Unternehmen begreifen, dass kleinere Losgrößen und flexiblere Fertigung am Markt Vorteile bringen. Dort kann man deutliche Verkürzungen bei den Umrüstzeiten erzielen. Ich weiß von einigen Unternehmen in Österreich, die solche Assistenzsysteme am Band verwenden, um dem Montagepersonal direkt über eine Brille oder den Augmented Monitor die Lage von Teilen wie zum Beispiel einem Motorblock anzuzeigen. Hier ändert sich ungefähr alle zehn Stück die Serie. Die neue Zusammenbauanleitung bekommt der/die MitarbeiterIn direkt eingespielt, ohne dass er jetzt Katalog A oder B heraussuchen muss.
Das Buch beschäftigt sich auch mit virtuellen Lernwelten. Hat in diesem Bereich die Corona-Pandemie mit den mittlerweile alltäglichen Online-Meetings die Entwicklung beschleunigt?
Lackner: Ich denke, dass durch Corona vieles denkbarer geworden ist als vorher. Wie etwa beim Corporate Tourism-Thema: Früher hat man immer gesagt, man muss irgendwo hinfahren und unbedingt vor Ort sein. Jetzt haben viele erkannt, dass dies nicht so ist und dass die Virtualität doch gut funktioniert. Das hat dem Ganzen natürlich einen Aufschwung gegeben.
Orsolits: Corona war so wie für die Digitalisierung auch für virtuelles Lernen der Beschleuniger schlechthin. Seit Monaten entstehen immer mehr virtuelle Welten, die unter dem Sammelbegriff „Metaverse“ zusammengefasst werden. Microsoft ist beispielsweise vor Kurzem mit „Microsoft Mesh“ als Mixed Reality-Plattform für die gleichzeitige, ortsunabhängige Teilnahme an Meetings oder Events auf den Markt getreten. Solche Multi-User-VR-Umgebungen, in denen man sich mit mehreren Personen in einem virtuellen Raum trifft, um dort interagieren zu können erfahren derzeit großes Wachstum. Auch Spatial IO, eines der ersten Unternehmen in dem Bereich, ist schon weit vorangeschritten. Mit diesem Tool kann man Meetings, Designworkshops und Ähnliches abhalten und sogenannte 3D-Avatare erstellen: Man wird abgefilmt und sieht sich dann selbst im virtuellen Raum. Das ist ein weiterer Schritt in Richtung Immersion.
Die Entwicklung steckt zwar noch in den Kinderschuhen, wird aber definitiv schon im nächsten Halbjahr oder Jahr ein großes Thema werden. Wir haben bereits mit einigen Studierenden solche Meetings veranstaltet und ich möchte demnächst auf diese Weise CAD-Objekte unserer Studierenden präsentieren. Mittlerweile gibt es hier auch Erweiterungen für Handy- und Desktopvarianten, es ist also kein Zwang mehr, um VR-Brillen zu benutzen.
Virtual/Mixed Reality ist aber hier ganz klar als DIE Technologie zu nennen. In der Augmented Reality gibt es ein paar Versuche, in denen Holoportation realisert wird. Dazu braucht man aber einen aufwändigen Scanner bzw. mehrere Kameras am Schreibtisch. Ich könnte mich dann als Ganzes zu meinen Studierenden nach Hause „teleportieren“, wo diese mich mit dem Handy auf den Schreibtisch stellen und der Lehrveranstaltung folgen können. Technisch ist das weitestgehend gelöst, aber es ist derzeit aufgrund der hohen Kosten, verfügbaren Bandbreiten und Komplexität in der Anwendung noch überwiegend im Forschungsbereich anzutreffen.
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Augmented Reality verknüpft die virtuelle Darstellung mit der realen Welt.
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AR bietet auch im Schulungsbereich viel Potenzial.
Wo bildet sich das Thema VR/AR in der Forschung und Lehre derzeit an der FHTW ab?
Orsolits: Das Feld VR/AR ist riesig – von der Spieleindustrie über den medizinischen Einsatz bis hin zur produzierenden Industrie spannt sich ein gewaltiger Bogen, um nur einige Bereiche zu nennen. In der Fakultät Industrial Engineering konzentrieren wir uns auf anwendungsbezogenen Einsatz der Technologien in Synergie zu Produktion, Robotik und zur Industrienähe im Allgemeinen. Meiner Meinung nach haben diese Technologien jetzt auch den Reifegrad erreicht, um sie im Hörsaal oder im Distance Learning zu verwenden. Ich verwende zum Teil jetzt schon AR-Tools in der Lehre. Ich treffe ich mich per Zoom mit den Studierenden, diese machen dann die AR-Steuerung auf und ich erkläre ihnen, wie sie damit ein digitales Modell eines Roboters in Augmented Reality auf dem Couchtisch steuern können.
Zum Thema Integration virtueller Technologien in die Lehre habe ich gerade ein Forschungsprojekt der Stadt Wien genehmigt bekommen. Es startet im September und wird drei Jahre laufen mit dem Ziel, virtuelle Laborübungen und Augmented Reality-Erfahrungen zu ermöglichen, um das Lernen leichter zu machen. Wenn wir beispielsweise einem Erstsemestrigen erklären wollen, wie ein Planetengetriebe funktioniert, müssen wir jetzt dazu das Verständnis aus unserer dreidimensionalen Welt in viele 2D-Abbildungen pressen. AR hingegen ermöglicht es dem Studierenden, so ein Getriebe mit Handy oder mit Brille anzusehen, es zu zerlegen, damit zu interagieren und es von allen Seiten zu betrachten. Hier gibt es immenses Potenzial für die Lehre.
Wie werden sich VR und AR in den kommenden Jahren weiterentwickeln?
Orsolits: Mit meiner Antwort lehne ich mich jetzt mal etwas aus dem Fenster. Marktprognose gehen von einem Wachstum in den nächsten vier Jahren von 125 Mrd € aus. Die „Big 5“ (Microsoft, Facebook, Apple, Amazon, Google) an der Westküste der USA investieren derzeit im zweistelligen Milliardenbetrag in das Thema AR und VR. Es ist ein durchaus realistisches Szenario, dass es Plattformen geben wird, ähnlich wie im Film „Ready Player One“, bei denen man sich in so etwas wie eine digitale Kopie der Welt einloggt. Man kann sich dort in künstlichen Umgebungen mit seinen Freunden treffen, an Meetings teilnehmen oder einkaufen gehen. Ein paar Stunden später hat man dann das, was man sich ausgesucht hat, vor der Türe stehen. Durch die Logistik-Dominanz von Amazon wird so etwas möglich. Ich gehe davon aus, dass das kommt, einfach weil es ein riesiger Markt ist. Und was die Technologie angeht: Das Handy als Krücke, die man ständig in der Hand halten muss, wird irgendwann wieder verschwinden. Ein Patent von Apple lässt vermuten, dass vieles vom Handydisplay auf eine Brille übergeht. Apple wird heuer oder nächstes Jahr eine solche Brille herausbringen. Sie wird so 100-150 Gramm wiegen, ähnlich einer gewöhnlichen optischen Brille, die Recheneinheit dazu wird aber nach wie vor das Handy bleiben. Was man aus dem Silicon Valley hört, ist zu erwarten, dass in drei bis vier Jahren Datenbrillen einen Tragekomfort und eine Qualität erreicht haben werden, dass sie aus dem täglichen Leben praktisch nicht mehr wegzudenken sein werden.
Lackner: Ich möchte noch auf eine wichtige Entwicklung hinweisen im Bereich Dienstleistung. Hersteller wollen nicht nur ein Produkt verkaufen, sondern auch Service. Ich glaube, dass viele Dienstleister große Schwierigkeiten bekommen werden. Die Hersteller werden sagen, sie schulen Kunden direkt. Der Kunde setzt dann einfach die Brille auf und der Hersteller hilft bei der Instandhaltung, bei der Fehlerbehebung und der Wartung. Und die lokalen Händler und Dienstleister, Service- und Supportbetriebe werden hier „herausgeschnitten“, es wird mehr Wertschöpfung zurück zum Hersteller geholt werden. Heute ist es so, dass viele große Konzerne das nutzen, aber die Mittelständler nicht. Das wird sich sicher noch ändern.
Orsolits: Das unterstreiche ich sofort. Man stelle sich vor, man hat zuhause eine Brille auf, die AR-fähig ist und die Kaffeemaschine hat irgendein Problem. Jetzt ist man nicht weit weg davon, dass die Kaffeemaschine mit dem Internet kommunizieren kann. Mit der Datenbrille kriege ich sofort angezeigt, was das Problem ist, wie ich es wieder beheben kann und zwar direkt über die Kaffeemaschinen eingeblendet (z.B. Wasser hier nachfüllen und ein Pfeil auf den Wassertank oder Mahlwerk kontrollieren mit step-by-step-Anleitung, wie ich das Mahlwerk warten kann). Benötige ich weitere Hilfe, löse ich einen AR-Call zum Servicemitarbeiter aus, der mir dann durch remote-AR-Support hilft, indem er mir Anweisungen direkt in mein Sichtfeld hinzufügen kann (etwa mit Pfeilen oder Textmarkern). Das wird die Servicelandschaft in den eigenen vier Wänden nachhaltig verändern.
Rückfragen & Kontakt
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Kompetenzfeldleiter Industrial Product Life Cycle Technologies
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Studiengangsleiter
Master Industrial Engineering & Business
Master Innovations- und Technologiemanagement